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Audio/Vision/Culture

Veranstaltungsposter

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Enis Dinç, Hauke Lehmann, Christina Schmitt, and Regina Brückner

Enis Dinç, Hauke Lehmann, Christina Schmitt, and Regina Brückner

Enis Dinç

Enis Dinç

Özgür Çiçek

Özgür Çiçek

Lunch break outside the Cinepoetics building

Lunch break outside the Cinepoetics building

Hauke Lehmann, Nazlı Kilerci-Stevanović, Regina Brückner, and Derya Demir

Hauke Lehmann, Nazlı Kilerci-Stevanović, Regina Brückner, and Derya Demir

11. & 12.07.2022 | Workshop der Kolleg-Forschungsgruppe Cinepoetics mit Hauke Lehmann, Enis Dinç, Özgür Çiçek, Regina Brückner, Nazlı Kilerci-Stevanović und Jan-Hendrik Bakels.

Der zweitägige Workshop konzentrierte sich auf die dynamischen Verflechtungen, die das filmische Bild mit Musikstilen, Migrationsbewegungen, technologischen Entwicklungen und politischen Projekten verbinden und daher immer auf Prozesse kultureller Gemeinschaftsbildung bezogen sind. Die Gruppe traf sich am ersten Tag des Workshops zu einer kurzen Begrüßung und einer gemeinsamen Sichtung von Abbas Kiarostamis Film shirin (IR 2008).

Am nächsten Tag eröffnete Hauke Lehmann die erste Sitzung mit seiner Präsentation über "The Places of Sound. Audio, Vision, and Culture". Er stellte Kultur als ein dynamisches Oszillieren zwischen Präsenz und Abwesenheit vor. Lehmann wies darauf hin, dass Filmbilder einen imaginären Raum außerhalb der Leinwand konstruieren, die Wahrnehmungsaktivität des Publikums lenken und sich zudem, in einem allgemeineren Sinne, aus dem kulturellen Imaginären speisen. Am Beispiel von shirin untersuchte er die Frage nach dem Verhältnis von Ton und Bild zum Onscreen- und Offscreen-Raum. Er argumentierte, dass der Film einer strikten Trennung von Ton und Bild folgt sowie Kadrierung und Montage kombiniert, um eine bestimmte Vorstellung von Publikum zu erzeugen. Dabei ließen sich verschiedene Formen von Nicht- oder Übervisualität unterscheiden.

Lehmann vertrat die Auffassung, dass der Film einen abstrakten Raum präsentiere, der weder im Bild noch im (unsichtbaren) Bild, das die Schauspielerinnen betrachten, verortet werden könne. Vielmehr besäßen die Bilder eine metaphorische Qualität im Sinne eines Zwischenraums, eines Wechsels von einer Erfahrungsebene zur anderen. Seinen Überlegungen folgend, wird der filmische Raum hier als ein Ort konstruiert, an dem sich Diskurse der Vergangenheit und des weiblichen Zuschauerseins ablagern. Besonders deutlich wird dies an der gestischen Qualität der (diegetischen) Zuschauergesichter. Indem die Gesichter die konventionellen Gesten des Filmsehens aktualisieren, übersetzen sie das Unsichtbare und buchstabieren die affektive Dramaturgie des Geschehens aus. Audiovisuelle Kulturen bestehen demnach ganz allgemein aus solchen Übersetzungspraktiken.

Im zweiten Vortrag des Tages, "Sultan's Fear of the Cinema", gab Enis Dinç einen historischen Überblick über die Ankunft des Kinos im Osmanischen Reich. Als der Cinématographe 1896 nach Istanbul kam, kursierten Ängste vor elektrischen Bränden, die durch die Projektionslampe ausgelöst wurden, und machten es schwierig, eine Genehmigung für Vorführungen zu erhalten. Da Frauen und Männer im öffentlichen Raum getrennt waren, wurde der gemeinsame Kinobesuch von Sultan Abdülhamid II. als moralisch verwerflich angesehen. Filmvorführungen und Werbung wurden daher streng kontrolliert, und politisch und religiös sensible Bilder waren nicht erlaubt. Der Sultan versuchte sogar, Filme im Ausland zu zensieren, die das Osmanische Reich in einem ungünstigen Licht darstellten.

Der osmanische Hof war jedoch westlich orientiert, und Filmvorführungen wurden bald Teil des Unterhaltungsprogramms im Palast. Mit der Zeit betrachtete der Sultan das Kino als Einnahmequelle zur Finanzierung von Projekten wie dem Bau von Eisenbahnen. Darüber hinaus wurde es von ihm als Propagandamittel eingesetzt. Während es in der Öffentlichkeit zunächst streng kontrolliert wurde, wurde die Kinokultur im Osmanischen Reich nicht gänzlich verhindert, sondern entwickelte sich vielmehr unter spezifischen (und kontrollierten) Bedingungen.

In ihrem Vortrag "The Acoustics of the Past in Özcal Alper's future lasts forever (TR 2011)" konzentrierte sich Özgür Çiçek auf die mündliche Kultur in Kurdistan sowie auf die Verwendung von Ton und Stimme im kurdischen Kino. Ihr Beispiel, future lasts forever, präsentiert Zeugnisse und eine bisher verhüllte Geschichte gelebter Krisen in alltäglicher Alltäglichkeit. Çiçek argumentiert, dass das Erzählen mehrerer unveröffentlichter persönlicher Geschichten in diesem Film eine Praxis sei, die eine mehrstimmige Erzählung schafft. Dies erzeugt einen Zustand des historischen Seins in der Gegenwart, mit einer Vergangenheit, die sich selbst durch Klang vermittelt.

Çiçek wies dann auf die unterschiedliche Verwendung der Tonaufnahmen im Film hin. Durch die Verwendung von Rückblenden entstehe ein Gefühl der ständigen Verlassenheit, und der Film kontrastiert mündliche Geschichten, die in verschiedenen lokalen Sprachen gesprochen werden, mit audiovisuellen Geschichten, die in meist westlichen Sprachen gesprochen werden. Die Aufnahmen von Straßengeräuschen im Film wurden von Çiçek als zufällige und körperlose Zeugnisse undokumentierter Verluste beschrieben. Darüber hinaus erhalte der Film zuweilen einen dokumentarischen Wert, wenn er eine Figur und damit das Publikum als Zuhörer positioniert. Das Publikum wird in die Schaffung von Wissen einbezogen, indem es traumatischen Ereignissen und Erinnerungen zuhört. Çiçek schloss mit einer kurzen Erkundung des Begriffs der Aufnahme als Berührung: Jemanden aufzunehmen sei eine auf Vertrauen basierende Praxis, erklärte sie, da man eine intime Vereinbarung mit einem anderen eingeht.

Der letzte von vier Vorträgen wurde von Regina Brückner und Nazlı Kilerci-Stevanović gehalten. Ihr gemeinsamer Vortrag " The Sounds of Familiarity: On the Affective Potential of Popular Music in Film " begann mit der genauen Lektüre einer Szene aus Fatih Akıns gegen die wand (DE 2004). Kilerci-Stevanović erläuterte Tempo, Rhythmus und Atmosphäre der Szene im Hinblick auf das populäre türkische Lied "Yine Mi Çiçek" von Sezen Aksu, das auf der Tonebene erklingt. Die Bilder von Essen und Kochen, kombiniert mit der Musik, rufen ein nostalgisches Gefühl von Zusammengehörigkeit, Haptik und Zärtlichkeit hervor. Mit einer unerwarteten Unterbrechung schlägt die Stimmung jedoch abrupt in einen tragischen Modus um. Dies, so Kilerci-Stevanović, unterstreiche die Existenz gegensätzlicher Gefühle am Rakı-Tisch. Die Bilder verschmelzen mit der eigenen Erinnerung an die Vergangenheit und sogar mit Erinnerungen, die nicht unbedingt die eigenen sind, wobei beides durch das Genießen einer aufkommenden Melancholie verbunden wird.

Im zweiten Teil des Vortrags konzentrierte sich Regina Brückner auf Thomas Heises Film stau – jetzt geht's los (DE 1992), den sie als einen Film zwischen einer mythologisierten Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft beschrieb, in dem sich die Gewalt zwischen Innenräumen und der Stadtlandschaft in die Körper einschreibt. Brückners genaue Lektüre einer Szene offenbarte einen Übergang von einem deutschen Schlager zum anderen, die beide gemeinhin mit der Mischung aus Aggression und Spaß von Fußballfans oder betrunkenen Gruppen assoziiert werden. Der Film bringt diese Assoziationen mit dem Neonazismus der frühen 1990er Jahre und der ostdeutschen Plattenbauarchitektur in Verbindung. Von einer Geschmacksgemeinschaft im positiven Sinne spricht der Film jedoch nicht: Die Lieder sind zwar tief in der deutschen Kultur verankert, werden aber mit Abscheu und Dissens verbunden.

In seiner Response auf die Vorträge stellte Jan-Hendrik Bakels vier Thesen zur Audiovision im Kino auf: Erstens, dass es im Kino keinen Ton und kein Bild gibt, sondern nur Audiovision im Sinne einer Gestalt, innerhalb derer wir differenzieren; zweitens, dass das audiovisuelle Ganze polyphon ist; drittens, dass aus der verkörperten Wahrnehmung komplexe Erfahrungen steigender und fallender Spannungen abgeleitet werden können, die die Dynamik physiologischer Affekte in den Zuschauern formen; und schließlich, dass die Bedeutungsgebung in der audiovisuellen Dynamik begründet ist und sich aus ihr ableitet.

In Bezug auf Lehmanns Präsentation bemerkte Bakels, dass die Zuschauer in shirin auf Gesichter reagieren, die ihrerseits auf Bilder und Töne reagieren. Das audiovisuelle Ganze erfordere jedoch eine Unterteilung der verschiedenen Dimensionen, die später zum Raum für das Zusammenspiel werden. In Anlehnung an Dinçs Vortrag erwähnte Bakels das phänomenologische Denken über Audiovision und insbesondere das Paradigma der Nicht-Sichtbarkeit des Sultans. Bakels ging dann auf Çiçeks Präsentation ein und stellte fest, dass die vielschichtigen Zeitlichkeiten nicht durch die Kombination von Ton und Bild erzeugt werden, sondern sich erst in der Erfahrung des Zuschauers realisieren. Das Trauma wird als eine verstreute, fragmentierte und eindringliche Gegenwart konstruiert. In Anlehnung an den Vortrag von Kilerci-Stepanović und Brückner wies Bakels darauf hin, dass populäre Musik uns zwar in die Vergangenheit führt, es aber einen Unterschied zwischen der Erfahrung von Musik im Kino und im täglichen Leben gibt. Musik in Filmen werde eher inkorporiert als rezipiert.

Die Abschluss-Diskussion drehte sich um die Integrität der Idee eines audiovisuellen Ganzen, wobei die Einschätzungen diesbezüglich unterschiedlich ausfielen. Dabei ging es auch um die Unzulänglichkeit der binären Betrachtung von Subkulturen, die falsche Vorstellung von Ganzheitlichkeit in der Geschichte der Moderne, die Vorstellung von Kultur als Bedeutungskonflikt und die Überblendung als Schaffung von etwas Neuem durch ständige Neu-Aushandlung von Ton und Bild im Kino.