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Begriffsarbeit: „Gemeinschaft“ und „Sense of Commonality“

Still aus Evet, Ich Will! 2008, R: Sinan Akkuş

Still aus Evet, Ich Will! 2008, R: Sinan Akkuş

Auf Grundlage der Kritik am Begriff „deutsch-türkisches Kino“ lautet die Ausgangsfrage des zweiten Forschungsschrittes wie folgt: wie verhalten sich audiovisuelle Bilder zu Prozessen der Gemeinschaftsbildung und was ist ihre Funktion in diesen Prozessen? Von hier aus wird die theoretische Begriffsarbeit in drei Unterfragen aufgeteilt:

  1. Was verstehen wir unter dem Begriff „Gemeinschaft“?
  2. Wie konzipieren wir „Prozesse von Gemeinschaftsbildung“?
  3. Wie lässt sich die Funktion der Filme in diesen Prozessen beschreiben?

Wir verstehen Gemeinschaften als Kollektive, die noch vor aller rationalen Verständigung über gemeinsam geteilte Überzeugungen, kulturelle Genealogien oder Verwandtschaftsverhältnisse in ihrer basalen Dynamik von Inklusions- und Abgrenzungsprozessen durch einen geteilten „sense of commonality“ (Rorty 1998), d.h. ein Gefühl für das Gemeinschaftliche, bestimmt sind.

Wir argumentieren, dass die Filme genau an der Übergangsstelle zwischen audiovisuellen Bildern, die als die sinnlichen Bestände geteilter Wahrnehmbarkeiten einer kulturellen Gemeinschaft zu fassen sind und der Repräsentanz dieser Geschmacks- und Wahrnehmungsweise für andere Communities in einer übergreifenden Zirkulation audiovisueller Bilder operieren.

Die affektökonomische Funktion der medialen Bildproduktion verzweigt sich zwischen einerseits integrierenden bzw. ausgrenzenden Identitätspolitiken und andererseits künstlerisch begründeten Taktiken der Aneignung: subversive Zersetzung, militante Erweiterung, Kreation neuer Sichtbarkeiten – gerichtet gegen das Netz der Repräsentanzen. Die Aneignung an sich ist weder notwendig progressiv noch reaktionär.

Dynamiken der Gemeinschaftsbildung haben demnach eine zweifache Ausrichtung: Einerseits sind sie auf die Genese gemeinschaftlich geteilter Erfahrungshorizonte gerichtet, andererseits formieren sich in ihnen zugleich affektive Zusammengehörigkeiten, die als ein geteiltes Gefühl für die Welt erfahrbar sind (d.h. Verhältnisse von Ein- und Ausschluss herstellen).

Literatur:

Hermann Kappelhoff (2015): The Politics and Poetics of Cinematic Realism, New York.

Hermann Kappelhoff (2018): Front Lines of Community. Hollywood between War and Democracy, Berlin.

Hermann Kappelhoff (2018): Gemeinsinn und ästhetisches Urteil, in: Matthias Grotkopp, Hermann Kappelhoff, Benjamin Wihstutz (Hg.): Geschmack und Öffentlichkeit, Zürich, (i.E.).

Hauke Lehmann (2017): How does Arriving Feel? Modulating a Cinematic Sense of Commonality, in: Transit. A Journal of Travel, Migration, and Multiculturalism in the German-speaking World, Jg. 11, Nr. 1 (2017). URL: https://escholarship.org/uc/item/7sd2s0v6.